Screams from Childhood

book on child abuse

therapeutic books

 
home
Spiritualiät zementiert die Blindheit der Kindheit
Liebesbrief an meinen Ärger
Begegnung mit meinem Selbsthass
Die Falle der Vergebung
1. Kapitel

Der Schwindel vom "False Memory Syndrom"

suche auf dieser Website
 
english articles
articulos español


visitors 
 

Aufsatz aus dem Buch "Second Generation Voices"

herausgegeben von Naomi and Alan Berger

verlegt von Syracuse University Press

 

Begegnung mit einer Mauer des Schweigens

von Barbara Rogers

 

Zitate

       „Wir werden der Gleichgültigkeit gegenüber den Gesetzen der Menschlichkeit beschuldigt. Diesen Vorwurf nehmen wir ernst. Der Mensch war in unserem Unternehmen stets wichtiger als das Geld. Meine ganze Erziehung ging dahin, durch die Firma den Menschen zu dienen, die in ihr arbeiten. Dieser Geist erfüllte das ganze Werk. Können Sie glauben, daß das, was in einem Jahrhundert gewachsen ist, plötzlich verschwindet? Wir alle, die Angeklagten und unsere Zehntausende von  Arbeitern und Angestellten, glauben es nicht. Wir haben uns gesorgt und bemüht unter Umständen, die nachträglich zu verstehen und zu beurteilen sehr schwer ist. Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal unserer Arbeiter ist eine Vorwurf, den wir nicht verdienen. Die Angeklagten, die vor Ihnen stehen, meine Herren Richter, haben im Kriege ihre Pflicht getan und sind sich keinerlei Schuld bewußt, gegenüber den Gesetzen der Menschlichkeit, welche die Grundlage sind für eine einige, friedliche Welt.“ (aus dem Schlußwort von Alfried Krupp am 30. Juni 1948 bei dem Kriegsverbrecherprozeß vor dem Nürnberger Gericht)

       „Die Lagerinsassen. . . waren meist jüdische Frauen und Mädchen aus Ungarn und Rumänien. Anfang des Jahres 1944 wurden [sie]… nach Essen gebracht und bei der Firma Krupp zum Arbeiten eingesetzt. Die Unterbringung und Verpflegung der Lagerhäftlinge war unter aller Würde… Morgens um 5 Uhr war Wecken… In den meisten Fällen war es den Häftlingen nicht möglich, sich täglich zu waschen… Verpflegung gab es morgens nicht…Notdürftig bekleidet, mit schlechtem Fußwerk, teils ohne Schuhe… ging der Marsch bei Regen und Schneewetter eine dreiviertel Stunde zur Fabrik. Um sechs Uhr begann die Arbeitszeit… [sie] betrug täglich zehn bis elf Stunden…“ (Dokument 258, Affidavit über die Zustände bei Krupp, verfaßt bei Dr. Jäger, Sereny 683)

       „Jackson wandte sich daraufhin einem anderen Dokument zu, D-313 (USA 901), der Aussage eines polnischen Arztes in einem Lager für polnische, französische und später auch russische Kriegsgefangene, die für Krupp in Essen arbeiten mußten. ‚Soweit ich verstanden habe’, sagte Jackson, ‚handelte es sich um ein Kriegsgefangenen- und Arbeitslager… Ich hatte nicht angenommen, daß es sich um ein Konzentrationslager handelte, gebe aber zu, daß sie manchmal schwer zu unterscheiden sind. Nun zum Dokument. [Das Lager wurde von der SS und Gestapo verwaltet.] Täglich wurden mir bis zu zehn Personen vorgeführt, die den Körper mit blauen Flecken überdeckt hatten aufgrund des dauernden Schlagens mit Gummischläuchen, Stahlruten oder Stöcken. Die Leute wälzten sich oft vor Schmerzen, ohne daß ich die Möglichkeit hatte, [ihnen] auch nur eine kleine medizinische Hilfe…zuteil werden zu lassen…Die Kost bestand aus einer Wassersuppe, welche schmutzig und sandig war, und oft mußten die Gefangenen auch Kohl, welcher fadig war und stank, zu sich nehmen… Die Schüsseln, aus denen die Leute aßen, benutzten sie auch als Toilette, weil sie zu müde waren und vor Hunger ermattet, um überhaupt von ihren Pritschen aufstehen zu können und zu laufen…Ich konnte täglich Leute bemerken, die infolge Hunger oder Mißhandlungen dahinkrepierten… Schlagen [wie in einem nahen Lager für russische Frauen] war an der Tagesordnung. Die Zustände dauerten jahrelang, vom Beginn bis zum Eintreffen der amerikanischen Truppen…’“ (Sereny 683,/684)

        „Nach den Geschäftsberichten der Firma aus dem Krieg glaubte man in   dem im Familienbesitzt befindlichen Konzern daran, daß „automatische Waffen die Waffen der Zukunft“ seien, und man benutzte das große Prestige des Namens Krupp, um die Häftlinge von Auschwitz—Männer, Frauen und Kinder—zwangsweise für die schwere Arbeit in den Werken heranzuziehen. Der Essener Konzern gab ein Beispiel von Unternehmensgeist und Wagemut, als er sich in dem Augenblick gegen eine Evakuierung aussprach, da die Wehrmacht—beunruhigt über die Nachbarschaft des Lagers zu den in Bewegung befindlichen Linien der Ostfront—die dortige Fabrikation von automatischen Waffen untersagen wollte. Firmeneigene Schriftstücke beweisen daß: ‚… Krupp schlug vor, in der bereits in Auschwitz zur Verfügung stehenden Fabrikhalle die Fertigung von Flugzeugbestandteilen und Zündern aufzunehmen, nachdem die Zündfertigung in Essen ausgefallen war. Der wichtigste Grund für diese Entscheidung ist das Vorhandensein von Arbeitskräften in den Konzentrationslagern… Als das Militär einer anderen Firma die Arbeit mit der Begründung, daß Krupp nicht in der Lage sei, die Produktionsnorm zu erfüllen, übergeben wollte, widersprach Krupp heftig und betonte die enge Zusammenarbeit seiner Firma mit Auschwitz.’ Für einen Außenstehenden ist der tiefere Sinn all dessen klar; er wird ja auch durch Krupps verheerenden Ruf im Ausland widergespiegelt. In Deutschland hingegen herrscht ein völlig anderes Erscheinungsbild vor.“ (Manchester 11/12)

 

 

Begegnung mit einer Mauer des Schweigens

Alfried Krupp war der Neffe meiner Großmutter. Alfrieds Mutter Bertha Krupp wurde 1903, im Alter von siebzehn Jahren, „zum Inhaber und Leiter des Familienunternehmens“—der Friedrich Krupp A.G.—„ernannt“. Die Firma wurde allgemein „die Waffenschmiede des Reiches“ genannt (Manchester 238). Meine Großmutter Barbara von Wilmowsky war Bertha Krupps jüngere und einzige Schwester.

Der Name Krupp wurde und ist bis heute bewundert und idealisiert. Er beinhaltet Macht, Einfluß und soziale Fürsorge für seine Arbeiter. Darüber hinaus war und ist die Firma als Arbeitgeber für viele Menschen bekannt und geschätzt.1950 geboren wuchs ich in Essen auf, wo schon immer der Hauptsitz der Firma Krupp gewesen war. Ich wußte nichts über die Vergangenheit und über das, was im Krieg geschehen war.

Die Firma und der Name Krupp waren ein wichtiger Teil meines Lebens, da meine Großeltern Wilmowsky—die Eltern meiner Mutter—nach der russischen Besatzung aus ihrer Heimat im Osten Deutschlands nach Essen geflohen waren. Ihre letzten Lebensjahre konnten sie auf dem Familiensitz der Krupps verbringen, der nur Minuten von meinem Elternhaus entfernt war. Ich besuchte sie oft, und auf meinem Weg zu ihnen ging ich durch den großen, schönen Park, in dessen Mitte die majestätische „Villa Hügel“ lag, die wie ein Schloß aussah. Meine Großmutter war dort aufgewachsen. Nach dem Krieg lebte niemand mehr von der Familie in der Villa Hügel. Sie wurde nur noch für soziale Anlässe oder als Treffpunkt für kulturelle Ereignisse wie Konzerte und Ausstellungen genutzt.

Meine Großeltern waren die letzten Familienmitglieder, die auf eine bescheidenere Weise „in dem braunen Ziegelhaus neben der Villa Hügel, das einst die Wohnung eines Torhüters gewesen war“ (Manchester 753) nach dem Krieg im Park der Villa Hügel lebten. Meinen Großvater, für den ich gern Klavier spielte und mit dem ich mich besonders gern unterhielt, mochte und schätzte ich sehr.

Trotz der ständigen Anwesenheit meiner Großeltern, ihrer Herkunft, des Namens Krupp und seiner Bedeutung in unseren Leben errichtete meine Mutter ein strenges Tabu, daß wir über unsere Verbindung mit der Krupp Familie nicht sprechen sollten. Etwa dreiunddreißig Jahre lang sprach ich mit niemandem über diesen Teil meiner Familie, meines Lebens und meiner Herkunft.

Als ich achtundzwanzig Jahre alt war, zog ich mit meinem ersten Mann und unseren Kindern von Essen nach Chikago. Gegen Ende eines sechsjährigen Aufenthaltes befand ich mich im Prozeß einer Therapie, in der das Bedürfnis erwuchs, mehr über meine Vergangenheit und die meiner Familie zu lernen. In der Ashram Bücherei des Spertus College in Chikago fand ich Alfrieds Schlußwort in seinem Nürnberger Prozess und wagte zum ersten Mal, es zu lesen. Von seinem abstoßenden Ton, seiner Arroganz und dem Fehlen jeder Reue war ich schockiert, tief erschrocken und entsetzt. Später traf ich in anderen Dokumenten und Aussagen von Alfried Krupp auf dieselbe Arroganz. Hier ist zum Beispiel seine eidesstattliche Versicherung von 1945:

Wir Kruppianer sind keine Idealisten sondern Realisten. Wir hatten den Eindruck, daß Hitler uns solch eine gesunde Entwicklung geben würde. Tatsächlich hat er das getan. Das Parteiwesen vorher war wild. . . Es gibt keine Ideale. Das Leben ist ein Kampf für das „Am-Leben-Bleiben“, für Brot und Macht. . . In diesem harten Kampf brauchten wir eine harte und starke Führung. Hitler gab uns beides. Nach den Jahren seiner Führung fühlten wir uns alle viel besser. Ich sagte, daß alle Deutschen sich hinter Hitler stellten. Die Mehrheit des Landes stand hinter seiner Regierung. Vielleicht war das unsere Schwäche. Ich habe kürzlich Churchills Reden gelesen und bemerkte, wie er ständig seine Politik gegenüber der Kritik der Parteien vertreten und gegebenenfalls ändern mußte. Das gab es bei uns nicht. Aber grundsätzlich machte das sowieso nicht viel aus. Die ganze Nation trat für die Hauptanliegen, die Hitler verfolgte, ein. Wir Kruppianer haben uns niemals viel ums Leben gekümmert. Wir wollten nur ein System, das gut funktionierte und das uns eine Gelegenheit gab, ungestört zu arbeiten. (Poliakov 36)

 

Dieses Erlebnis hatte zur Folge, daß ich mehr über den Holocaust wissen und lernen wollte. Während der letzten Monate in Chikago, bevor ich nach Deutschland zurückkehren mußte, beschäftigte ich mich daher intensiv mit dem Holocaust. Ich belegte einen Kurs mit dem Thema:  „Begegnung mit dem Holocaust“, mit dem eine lange Reise des Lernens über die Vergangenheit meiner Familie begann.

Als der Professor anfing, über Auschwitz zu sprechen, erwähnte er zunächst, wer Auschwitz gebaut hatte. Er stand auf und schrieb zwei Namen an die Tafel: I.G.Farben und—Krupp. Als der Name Krupp auf der Tafel erschien, hatte ich das Gefühl, als ob sich unter mir die Erde öffnete. Ich wurde überwältigt von Schock, Unglauben und Scham. Obwohl ich selbstverständlich von den Nürnberger Prozessen wußte—und auch, daß Alfried dort vor Gericht gestanden hatte—so war mir weder klar, warum er angeklagt war, noch waren mir andere Fakten seiner Kriegsgeschichte oder von der Schuld des Krupp Konzerns bewußt.

Das vollständige  Schweigen nach 1945 über das, was im Krieg geschah, und über die Rolle von Eltern und anderen Familienmitgliedern während Hitlers Herrschaft ist eine weit verbreitete Tragödie in vielen deutschen Familien. Zum Glück konnte ich in meinem Fall durch Bücher mehr über diesen Teil meiner Familiengeschichte herausfinden. Wie eine Verschwörung lastete die Atmosphäre des Schweigens auf den Familien; sie lag wie eine schwere, dicke Decke über den meisten Nachkriegskindern und Jugendlichen. Man hatte uns gelehrt, nicht zu fragen und niemals Fragen zu stellen—dadurch wurden viele meiner Generation so blind, uninformiert und unwissend wie ich mich an diesem Tag im Unterricht erleben und erkennen mußte.

Wenn Alfried Krupp bei Familientreffen erschien konnte ich spüren, wieviel Respekt, Mitleid, Ehrfurcht und Bewunderung ihm entgegengebracht wurden. Als Kind hatte man mich gelehrt, daß er ein Opfer war: er sei an Stelle seines Vaters in Nürnberg angeklagt und verurteilt worden, als Folge einer Krankheit seines Vaters. In meiner Familie und auch allgemein wurde er als Märtyrer betrachtet. William Manchester schreibt in seinem Buch Krupp—Zwölf Generationen: „. . . und Millionen von Deutschen waren nun überzeugt, daß Nürnbergs prominentester Angeklagter des Jahres 1948. . . zu einem nationalen Märtyrer des Vaterlandes geworden sei.“ (Manchester 620 )

Auch ich glaubte, daß mein Onkel keine Verantwortung für die während des Krieges von der Firma getroffenen Entscheidungen und ausgeführten Handlungen trug. Doch je mehr ich las und lernte, desto klarer wurde mir, daß er von Kriegsbeginn an in die Entscheidungen der Firmenleitung verwickelt war. Vom 31. März 1942 an wurde Alfried Krupp „Vorsitzender des Vorstandes. . .  Als solcher hat er nach seinen eigenen Unterlagen jüdische Gefangene aus Konzentrationslagern an den verschiedensten Arbeitsplätzen beschäftigt. . .“ (Manchester 16)

Im Jahr 1943 wurde Alfried schließlich Alleineigentümer des Krupp Konzerns und trug von da an die ausschließliche, volle Verantwortung. Nach dem Krieg wurde seine Verwicklung in die grauenvolle und skrupellose Ausbeutung von Menschen durch Sklavenarbeit, auch in den besetzten Ländern—für die er Zehntausende ziviler Arbeiter aus dem Ausland, Kriegsgefangene, und Gefangene aus Konzentrationslagern mißbrauchte—damit gerechtfertigt, daß es ihn sein Leben gekostet hätte, wenn er nicht Befehlen gefolgt wäre. Doch auch das war nicht wahr:

 

Krupps Rolle im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Auschwitz ist für jede Kulturnation unentschuldbar. Sie stellt, unter anderem, einen flagranten Verstoß gegen die deutschen Arbeitsgesetze dar. Alfried konnte sich nicht, wie viele uniformierte KZ Wächter, darauf berufen, daß ihm nur die Wahl zwischen der Ausführung eines von Vorgesetzten erteilten Befehls oder dem Erschossenwerden geblieben sei. Kein Führerbefehl hat ihn gezwungen, die Arbeitskraft der Auschwitz-Opfer auszubeuten. Es war seine eigene Initiative. (Manchester 430)

Mein Großvater Thilo von Wilmowsky hatte als junger Mann Jura studiert. Manchester beobachtete an ihm, daß „auch nur der Hauch einer Kritik an der Familie—seiner wie ihrer“— ihn aufbrachte. (Manchester 755). Im Jahr 1955 schrieb mein Großvater das Buch Warum wurde Krupp verurteilt?, in dem er leidenschaftlich die Firma Krupp und Alfried für ihre Taten im zweiten Weltkrieg verteidigte.

Das Schicksal meiner Großeltern war sehr anders und schwierig verlaufen—nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli, von dem sie nichts gewußt hatten, wurden sie verhaftet. Meine Großmutter verbrachte zwei Monate im Gefängnis und wurde nach einer Verhandlung vor dem Volksgerichtshof freigelassen. Mein Großvater wurde während der letzten Kriegsmonate im Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt. Sein „Verbrechen“ bestand daraus, daß er kritische Briefe über die SS geschrieben und versucht hatte, einem jüdischen Menschen zu helfen.

Mein Großvater überlebte. Sein tragisches Geschick am Ende des Krieges enthob ihn jeder Kritik. Aus allem, was ich als Kind über ihn hörte und persönlich mit ihm erlebte, wurde in mir eine starke Idealisierung und Verehrung für ihn geschaffen. Diese Gefühle waren zutiefst ein Teil von mir, da ich meinen Großvater wegen seines geduldigen, gütigen, freundlichen, nachdenklichen und sanften Wesens aufrichtig liebte. Darüber hinaus war er immer an meinem Leben interessiert und nahm mich ernst. Als er starb war ich sechzehn Jahre alt. Über die Vergangenheit hatte ich weder nachgedacht noch sie in Frage gestellt.

 

Wieso aber sollte in der Beschäftigung von KZ-Häftlingen überhaupt eine strafbare Handlung zu sehen sein? Der Freiheit waren die Häftlinge beraubt, gleichviel ob sie in der Industrie beschäftigt waren oder nicht. . . Die Richter konnten sich nicht im unklaren darüber sein, was die Bemühungen des schlesischen Krupp-Werks für die davon betroffenen Juden bedeutete—nämlich die Rettung des Lebens im Falle des Erfolgs. Für viele Häftlinge lautete die Alternative: Industrieeinsatz oder Vernichtungslager. Trotzdem sieht das Urteil die Industriellen, die den Häftlingen die Möglichkeit des Überlebens verschafften, als eines Verbrechens schuldig an. (Wilmowsky 192)

 

Ich war eine erwachsene Frau von fünfunddreißig Jahren, als ich diese Worte meines Großvaters schließlich las. Ich konnte nicht glauben, was ich las. Meine Enttäuschung und Entrüstung waren riesengroß. Wie konnte er leidenschaftlich unbeschreibliche Verbrechen rechtfertigen? Ich war schockiert und tieftraurig. Ich konnte nicht fassen, daß er es wagte, das hinterlistige, trügerische „Argument“ zu benutzen, die Berthawerke hätten Menschenleben gerettet. Noch dazu präsentierte er Hitlers Wahnsinn und Verbrechen des „totalen Krieges“ als eine ganz normale moderne Realität:

 

Das Urteil im Krupp Prozess hat. . . den Begriff der Plünderung in einer Weise angewandt, als ob die Welt sich in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 noch im Zustand von 1907 befunden hätte, ja als ob der Zweite Weltkrieg im Stil des Krieges von 1870/71 geführt worden wäre. Es meint offensichtlich, der „totale Krieg“ sei eine nationalsozialistische Propagandaphrase und nicht eine elementare, harte Tatsache der Wirklichkeit, abseits aller Ideologien. (Wilmowsky 108)

 

Den Zweiten Weltkrieg betrachtete mein Großvater, wiederum die Wahrheit entstellend, als einen „um die nackte Existenz geführten“ Krieg. Doch dieser Krieg war durch Hitlers und Deutschlands Aggression ausgelöst  worden und wurde nur allzu bereitwillig und unterwürfig von begeisterten, gehorsamen Deutschen unterstützt.

Der Holocaustkurs ermöglichte es mir, mit eigenen Augen zu sehen, Fakten zu lernen, jegliche Frage, die ich hatte, zu stellen—und er gab mir durch das Schreiben von Aufsätzen endlich die Möglichkeit, meine Gefühle, meine Gedanken und Fragen, die ich vollständig in mir hatte begraben müssen, hervorzubringen und auszudrücken. Indem ich die Wahrheit über den Holocaust lernte konnte ich diese Fragen zutage fördern. Damit begann ein wichtiger, neuer Lebensweg —mein unaufhörliches Lernen über den Holocaust.

Der Holocaustkurs hatte tiefe Auswirkungen auf mein Leben. Zum ersten Mal schaute ich nach Innen um herauszufinden, was ich über den Holocaust fühlte und dachte, und welche Konsequenzen er für mich hatte; und durch das freie Schreiben konnte ich zum ersten Mal in meinem Leben meine ureigenen Gedanken und Gefühle ausdrücken. Wo ich zuvor nichts als Verwirrung und Angst gespürt hatte—was sich zunächst wie eine klebrige, zähe, schwarze Masse Teer in mir und meinem Gehirn angefühlt hatte—begann ich, etwas Klarheit, Ehrlichkeit und Wahrheit zu schaffen.

Nach und nach konnte ich immer mehr über die Verwicklung meiner Familie begreifen und historische Fakten verarbeiten. Dadurch konnte ich die Lasten der Blindheit und des Schweigen überwinden, die mir von der Familie aufgebürdet worden waren. Ich lernte auch, mit starken, emotionalen Schockwellen umzugehen, die mich manchmal überwältigten. Diese Reaktionen brachen durch die Entdeckung schockierender Wahrheiten, auch durch ungelöste Gefühle hervor, und weil ich—angesichts einer Herkunft und Umgebung, die nicht wollten, daß ich frei fragen, denken, fühlen, lernen und sprechen konnte— große Empörung und Verzweiflung empfand.

Anfangs war ich von Angst sowie von Gefühlen, die miteinander im Streit lagen, verwirrt und konnte Informationen über meine Familiengeschichte kaum lesen, geschweige denn begreifen. Zunächst mußte ich meine Gefühle kennenlernen—und dann lernen, mit ihnen umzugehen. Es dauerte Jahre um sie wieder in mir lebendig werden zu lassen, um sie zu akzeptieren, zu verstehen, zu verarbeiten—und um mit ihnen leben zu können. Ich mußte herausfinden, woher sie kamen, warum sie existierten, was sie bedeuteten—bevor ich das Gelernte intellektuell begreifen und verarbeiten konnte.

Gefühle von Unglauben, Schock, Protest, Wut, und Verzweiflung stellten Gefühle von elementarem Urvertrauen, von Loyalität und Liebe in Frage. Intensive Furcht und Angst begleiteten mich unausgesetzt auf diesem Weg des Lernens, Wachsens und „Mich-Veränderns“. Zunächst geschah das nur in meinem Inneren—dann durch das Schreiben und später durch Publizieren. Was mir meine Familie, meine Kultur und mein Land kostbar und liebenswert gemacht hatte, kämpfte mit und unterlag oft Gefühlen von Scham, Schmerz, Enttäuschung, Trauer und Verlust.

Loyalität und Liebe machten mich immer wieder blind. So auch Vorurteile, Denkmuster und emotionale Prägungen, die in mich hinein programmiert worden waren—manche über Generationen. Sie zu entdecken erfüllte mich mit Trauer und Scham. Ich konnte diese Muster nur überwinden, indem ich sie aufrichtig anschaute, in Frage stellte, mich gegen sie auflehnte, sie verurteilte, und gegen meine Unterwerfung und Blindheit diesen Programmierungen gegenüber protestierte und sie betrauerte. Nur sehr allmählich, und Schritt für Schritt, konnte ich so Argumente analysieren, Entstellungen, Rationalisierungen, Verteidigungsmechanismen und Lügen durchschauen und versuchen, die Wahrheit und meinen eigenen Standpunkt herauszufinden. Ich entdeckte schließlich, daß die Wahrheit, sogar das Leben und die Realität, vollkommen anders waren als man sie mir vermittelt hatte.

In dieser Nachkriegsatmosphäre heranwachsend habe ich einsehen müssen, daß gewisse Sichtweisen immer sehr schmerzlich und verwirrend für mich sein werden. Der Schock, die Traurigkeit und Trauer, die ich für die Opfer und wegen der von Deutschen, einschließlich meiner Familie, begangenen Verbrechen fühle und erlebe, sind überwältigend. Doch auch die Erfahrung, unter Deutschen aufgewachsen zu sein, die ihre Vergangenheit begruben ohne sie ehrlich und mit Gefühlen anzuschauen, ist ein Teil von mir. Sie hinterließ ein Vermächtnis des Schweigens und wurde zu einer schrecklichen Bürde für die nächste Generation.

Über diese deutsche Generation gibt es kaum Literatur. Während einer Zeit von achtzehn Monaten arbeitete ich 1983/84 mit einem jüdischen Psychoanalytiker an meiner Vergangenheit. Dabei kam die Bürde, welche die Vergangenheit meiner Familie und meines Landes in mir verursacht hatten, immer wieder hoch. Mein Therapeut konnte keine Informationen über meine Generation und ihre Probleme finden.

Der israelische Psychologe Dan Bar-On untersuchte die psychologischen Folgen dieses Schweigens  in Gesprächen mit den „Kindern der Nazi Generation, die nun im mittleren Alter standen“ in seinem Buch Die Last des Schweigens, das 1989 erschien. Er fand heraus, daß die „psychologische Literatur . . . unzählige Forschungsberichte und Berichte über die Kinder, sogar die Enkelkinder der Überlebenden [umfaßte]. Aber ich konnte so gut wie nichts über die Täter und deren Kinder herausfinden.“ (Bar-On 25)

Als ich sein Buch las wurde mir klar, daß ich „die Last des Schweigens“ brechen konnte, indem ich meine Familiengeschichte, und damit einen wichtigen Teil meiner Identität, konfrontieren und betrauern konnte. So öffnete sich eine Tür zu ehrlicherem Kontakt mit mir selbst und mit meinen Gedanken und Gefühlen (die ich hatte unterdrücken müssen um das Gleichgewicht meiner Eltern nicht zu erschüttern).

Dieser Prozeß hat mein Leben in den vergangenen fünfzehn Jahren zutiefst verwandelt. Ich bin auf eine Weise gewachsen, die immer mehr widerspiegelt, was ich als wirklich wichtig erkannt habe. Werte und Prioritäten, die vorher in mir verborgen lagen, üben immer mehr Einfluß aus und lassen mich das Leben ehren—ob es mein eigenes oder das eines anderen Menschen ist. Zunächst zwang dieser Weg mich, meiner ersten Ehe, meiner Familie und meinem Land ehrlich ins Auge zu sehen nachdem ich von Chikago nach Essen zurückgekehrt war. Mit Schmerz mußte ich erkennen, daß ich in diesen Bindungen nicht das verwirklichen konnte, was für mich das Leben sinnvoll, wichtig und kostbar machte. Chikago hatte mir die Erfahrung geschenkt, mit meinem Verstand, meinem Herzen und meiner Seele frei atmen zu können. Nach acht Jahren, die ich wieder in Deutschland gelebt hatte, kehrte ich allein nach Chicago zurück, als mein jüngstes Kind ins Studium aufbrach. Dort baue ich weiter ein vollkommen anderes Leben für mich auf.

Ich erlebte einen tief-bewegenden Augenblick in meiner Therapie als mein Therapeut von einer Israelreise zurückkehrte. Er erzählte mir von seinem Besuch in Yad Vashem, Israels Gedenkstätte für den Holocaust. Er beschrieb eine sehr große, von einem Gang für Besucher umgebene Halle, auf deren Boden die Namen von Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen und der anderen Vernichtungslager eingeschrieben waren. Er sagte mir, daß er auch an mich gedacht habe, als er dort stand und erkannt habe: „Auch Du hast gelitten.“

Etwa fünf Jahre später reiste ich selbst nach Israel, und stand an dem gleichen Ort und dachte daran, wie meine Therapie es mir ermöglicht hatte, daß ich die Fähigkeiten zu trauern, zu fühlen, zu erinnern, Fakten zu lernen und mich zu verändern wiedererlangen konnte. So brachte mich die Therapie—nicht nur im wörtlichen sondern auch im metaphorischen Sinn—an den selben Ort: Nach Yad Vashem—und zurück zu der elementaren menschlichen Eigenschaft, Pflicht, Verantwortung und dem Recht, meine Vergangenheit ansehen zu können und mich ihr zu stellen.

In ihrem Buch Das große Schweigen schreibt Gabriele von Arnim über das Schweigen, das die nächste deutsche Generation belastete:

 

„Wie geht man mit der Vergangenheit um? „Indem man damit umgeht“, sagte mir ein kluger Mann. Das habe ich versucht. . . Es gibt kein Rezept, kein Fazit, keine Katharsis. Es gibt  kein Ende. Es hört nie auf. Man kann sich nicht lösen und wird nicht erlöst, aber man kann trotzdem leben und erst recht lieben. Ich bin in diesem Jahr des Lesens, des Zuhörens und des Schweigens die Vergangenheit nicht losgeworden. Im Gegenteil: Ich habe sie hinzugewonnen.“

 

Dies ist auch meine Erfahrung auf meiner Reise während der vergangenen fünfzehn Jahre gewesen.

Die Suche nach der Vergangenheit meiner Familie geht weiter. Über den Krupp Teil meiner Familie konnte ich alle Fakten durch Bücher lernen. Doch es gibt andere Teile der Vergangenheit meiner Eltern, die bis heute unter einer dicken Decke von Schweigen begraben sind. Ich weiß zum Beispiel keine Tatsachen über die drei Kriegsjahre, die mein Vater als deutscher Soldat in Rußland verbrachte. Durch sein ganzes Leben hindurch, und verheerend im Alter, verfolgten ihn diese Zeit, seine Erlebnisse und, wie ich vermute, seine Schuld. Die traurige Wahrheit, daß er sich nie seiner Vergangenheit stellte, zerstörte sein Leben und wurde eine Bürde für seine Kinder. Wenn ich an meinen Vater denke—der einst eine leidenschaftliche Liebe für das Leben hatte—dann habe ich das Bild eines gebrochenen Mannes vor mir, dessen Geist zerstört war, und der stundenlang schweigend vor sich hin brütete.

Obwohl ich in meiner Familie keine offene Sympathie für Hitler oder den Nationalsozialismus nach dem Krieg erlebte, und generell die Geschichte recht gefahrlos diskutiert werden konnte, so stieß jedoch jeder Versuch, ehrlich und offen mit meinen Eltern über ihre persönliche Vergangenheit zu sprechen, auf Schweigen, oder endete in Ausweichen und Ausflüchten, wenn nicht sogar in kritischen, scharfen Kommentaren, Angriffen, oder Verurteilungen. Weitere Fragen wurden von ihnen vollkommen entmutigt. Meine Eltern errichteten eine unüberwindliche Mauer zwischen uns und um sich selbst.

Jahrelang kämpfte ich mit der Enttäuschung, nicht offen oder ehrlich mit meinen Eltern sein zu können. Sie zogen es vor, nicht ehrlich mit sich zu sein. Vergeblich hoffe ich, daß das Leben mir die Gelegenheit gewährt hätte, eine andere Beziehung und eine andere Form von Kommunikation mit meinen Eltern zu finden. Nur einigen Deutsche meiner Generation wurde diese Möglichkeit gewährt, und ihre Berichte sind für mich sehr bewegend.

Trotz vieler schwerwiegender Probleme, die aus der Unfähigkeit stammen, der eigenen Familiengeschichte und der persönlichen Geschichte ehrlich zu begegnen, was ich in vielen Deutschen beobachten konnte, habe ich hoffnungsvolle und ermutigende Veränderungen in der dritten Generation bemerkt. In Essen wurde zum Beispiel die „Alte Synagoge“ während der achtziger Jahre restauriert und orginal getreu wieder aufgebaut. Sie war in der Kristallnacht schwer zerstört worden und wurde nach dem Krieg als Museum für industrielle Produkte benutzt, wobei auch Produkte von Krupp ausgestellt wurden. Nun ist sie ein Kultur- und Forschungszentrum, das sich mit dem Teil der Essener Vergangenheit auseinandersetzt, der bis dahin von Schweigen bedeckt war.

Vier Jahre lang lebte ich nach meiner Therapie in Essen, wo ich mich etwas an der Arbeit und Forschung der alten Synagoge beteiligte.  Ein andauerndes Projekt der alten Synagoge besteht daraus, formelle historische Erinnerungsgeschichten über jüdische Familien zu schreiben, die in Essen gelebt hatten. Sie werden in besonderen Schachteln gesammelt und aufbewahrt. So werden die zerstörten Leben und tragischen Schicksale der Juden aufgezeichnet. 1986 traf ich in der alten Synagoge Beth Ellen Rosenbaum, die Tochter des Holocaust Überlebenden Kurt Rosenbaum. Sie war von New York gekommen um herauszufinden, was mit ihren Großeltern geschehen war. Ich arbeitete mit ihr und auch unabhängig von ihr, um etwas über das Schicksal ihrer Großeltern zu erforschen. Schließlich wurde eine formelle Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben und der wachsenden Kollektion der Synagoge hinzugefügt. Ich konnte auch die Krupp Stiftung überzeugen, den Katalog einer Ausstellung mit den einzigartigen Puppen der Puppenmacherin Edith Samuel, die rechtzeitig nach Israel emigrieren konnte, zu fördern. Ihr Vater, Rabbi Salomon Samuel, hatte wesentlich zur Planung und zum Bau der alten Synagoge beigetragen.

Mit einem Gefühl der Erleichterung erinnere ich besonders eine von einer Schulklasse gestaltete Ausstellung in der alten Synagoge. Die Schüler hatten versucht herauszufinden, wieviel Fremd- und Sklavenarbeiterlager in Essen gewesen waren. Die Klasse hatte über sie geschrieben, Karten gezeichnet, und zeigte und teilte alle Informationen mit, die sie hatte finden können. Ich denke, daß es erst dieser Generation möglich sein wird, die Nazi Vergangenheit freier anzusehen und zu behandeln. Diese Generation ist viel weniger gehemmt als die beiden vorhergehenden Generationen und konfrontiert die Vergangenheit ehrlicher und offener.

Die Mauer des Schweigens, auf die ich und so viele meiner Generation stießen, war ein zutiefst uns prägender Teil unserer persönlichen Vergangenheit—in meinem Fall, für eine lange Zeit, ein vollkommen unsichtbarer und unbewußter. In dem Film „Dark Lullabies“, (Dunkle Wiegenlieder), spricht eine junge deutsche Frau, Susanne Holman, über das, was sich in ihr veränderte, als sie die Vergangenheit ihres Dorfes entdeckte. Sie bemerkt:

„Ich fühlte mich um meine Geschichte betrogen. Ich hatte zwanzig Jahre hier gelebt, doch mir fehlte ein Teil der Geschichte, die zu diesem Ort gehörte. Das war mir nie erzählt worden, und deshalb habe ich nicht gelernt zu fragen. Das war eine sehr wichtige Entdeckung für mich. Sie zerstörte zu einem gewissen Ausmaß die Gefühle, die ich für den Ort, der meine Heimat gewesen war, gehabt hatte.“

 

Was mir bei der Generation meiner Eltern weh tut ist nicht, daß sie bessere oder andere Menschen hätten sein sollen. Konfrontiert mit unvorstellbaren Lebensumständen trafen die Menschen die Entscheidungen und Wahlen, zu denen sie ihr Charakter, ihre Herkunft, ihr Hintergrund, ihre Kultur, Familie, und ihr nationales Training zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens veranlaßten. Doch ich wünschte mir, daß ich nach dem Krieg Zeuge von  Anzeichen ernsthafter Selbstzweifel, eines erwachenden und wachsenden Bewußtseins des eignen Selbst hätte werden können—und, darauf folgend, auch Zeuge von Veränderungen, eines gewissen Ausdrucks von Trauern, Bedauern, Reue und eines Bemühens, Veränderungen einzuleiten, um die Chancen für das Lernen, Erkennen und die Entwicklung der nächsten Generation zu verbessern.

Unabhängig von den verschiedenen Ansichten, die Menschen über die Ursachen für das Entstehen von Hitler und des Nationalsozialismus hatten, wünschte ich, daß ich Versuche individueller Wiedergutmachung hätte erleben und Zeuge eines Bemühens hätte werden können, das sich dafür eingesetzt hätte, daß bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen nicht nur in Frage gestellt sondern auch aufgegeben worden wären. Ich wünschte, daß ich heranwachsend die Worte NIEMALS WIEDER gehört hätte.

Als ich nach Deutschland zurückkam, erlebte ich es als verwirrend und schmerzhaft, wenn ich erkannte, daß die Kommunikation zusammenbrach und Mauern wuchsen—sogar bei Menschen, die den Nationalsozialismus aufrichtig verurteilten und kritisierten—wenn ihre persönliche oder Familiengeschichte involviert war, wenn das Gespräch in Bereiche kam, wo sie Bürden aus ihrer persönlichen oder ihrer Familiengeschichte trugen. Ich erkannte auch, daß die Menschen, trotz äußerlich sichtbarer liberaler Ansichten, nicht in der Lage waren, den emotionalen und Verhaltensmustern zu entkommen, die nicht nur schon generationenlang vor Hitler in die Seelen und Verstande einprogrammiert und darin etabliert worden waren, sondern die unter dem Nationalsozialismus und seiner Propaganda ausgebeutet und sogar noch verstärkt und vertieft worden waren. In ihrem Buch Albert Speer: Sein Ringen um die Wahrheit, schreibt Gitta Sereny über ihn: „Es mangelte ihm an einer ganzen Dimension: an der Fähigkeit zu echten Gefühlen, die ihm in der Kindheit geraubt worden war, so daß er keine Liebe, sondern nur romantisierende Ersatzgefühle für Liebe empfinden konnte. Mitleid, Mitgefühl, Zuneigung und Einfühlungsvermögen waren für ihn Fremdwörter.“ (Sereny 865) Das ist mir in verletzenden persönlichen Zusammenstößen mit der ersten und zweiten deutschen Generation, vor allem nach meinem Erwachen in den Vereinigten Staaten, schmerzlich bewußt geworden.

Unter Hitler wurden die Menschen zutiefst durch eine Ideologie gnadenloser Härte und Grausamkeit geformt und geprägt, die man sich selbst und anderen gegenüber anzuwenden hatte—Hitlers Vermächtnis. Diese Überzeugungen und Verhaltensmuster blieben ein beherrschender Einfluß und eine starke, im Unterbewußtsein verankerte Tendenz im seelisch-geistigen Leben der Menschen. Sie sind nur allzu oft und allzu gut hinter einer äußerlich liberalen, demokratischen Fassade verborgen, die auf eine trügerische Weise offen mit der Vergangenheit umzugehen scheint. Ich machte die Erfahrung, daß eine intellektuelle Kritik des Nationalsozialismus nicht mit emotionaler Ehrlichkeit und Reife verbunden war.

Antisemitismus, der schon vor Hitler eine sehr akzeptierte Form von Vorurteilen und Haß war, konnte nach dem Krieg nicht mehr offen ausgedrückt werden. Doch ich konnte später spüren und verstehen, daß sich in vielen Menschen ihre grundsätzliche Einstellung nicht verändert hatte; sie war nur versteckt, weil die meisten Menschen nach dem Holocaust nicht mehr wagten, offen antisemitisch zu sein. Es war ein Schweigen, das nicht die wahre Abwesenheit von Antisemitismus bedeutete und nicht das Ergebnis von Lernen und Wachsen war. Ich hörte, wie neue Sündenböcke, wie die Vereinigten Staaten, beschuldigt und manchmal sogar mit „jüdischem Einfluß“ assoziiert wurden.

Während der Nazi Herrschaft war falsches, sogar kriminelles Verhalten die akzeptierte und etablierte Norm geworden. Selbst nach dem Krieg wurde oft unmenschliches oder kriminelles Verhalten entschuldigt, verteidigt, beschönigt, ignoriert oder verharmlosend verspottet. Nur selten vertraten Menschen eine klare Position, die unmißverständlich ausdrückte, welches Verhalten im menschlichen Zusammenleben gut oder destruktiv ist. Ich wuchs heran und lebte unter Menschen, die oft falsches, sogar böses Verhalten oder unmenschliche Taten entschuldigten. Schließlich erkannte ich, daß diese Atmosphäre, zusammen mit anderen Einflüssen, ein Loch in mir geschaffen hatte, wo ich ein Gewissen oder einen moralischen Kodex hätte haben sollen.

Wenn ich das Gefühl hatte, daß es falsch wäre, auf eine bestimmte Weise zu handeln, hatte ich oft sich widersprechende Ansichten in mir, die das, was ich sah, dachte und fühlte in Frage stellten. Diese Erwägungen schwächten meine innere Stimme, erzeugten Verwirrung in meinem Verstand und verursachten nicht nur Unsicherheit in mir sondern überzeugten mich davon, daß etwas mit dem Ausdruck meines wahren Selbst, mit meiner inneren Stimme und damit, wie ich richtig und falsch, Gut und Böse sah und erlebte, darüber fühlte und dachte, nicht stimmte. Inzwischen kann ich besser Meinungen formen, die meine inneren Überzeugungen widerspiegeln, und sie ausdrücken und in die Tat umsetzen.

Als ich mit achtundzwanzig Jahren nach Chikago kam, wurde ich lebendig. Nach und nach konnte ich immer mehr mit dem Leben und den Menschen um mich herum Verbindungen knüpfen. Das ließ mich erkennen, wie isoliert ich mich in Deutschland gefühlt hatte, wo ich mich in meiner Kindheit und Jugend wie eine Fremde in meiner Familie erlebt hatte. In den Vereinigten Staaten hatte ich begonnen in einer Kultur zu leben, in der das Schweigen, mit dem ich herangewachsen war, nicht existierte. Mir wurden nicht nur Fragen über die Vergangenheit gestellt, sondern die freie, unbefangene Umgebung brachte in mir selbst Fragen und Gefühle hoch—nicht nur über die Vergangenheit sondern auch darüber, wie ich mein Leben lebte und bisher gelebt hatte. Meine wirkliche Reise in das Leben begann, als ich endlich das emotionale Schweigen in mir mit der Hilfe eines anderen Menschen erkannte und konfrontierte.

Ich brauchte Unterstützung, um die Wände des Schweigens in mir selbst einzureißen, um meine Ängste, Vorurteile, und die inneren Programme und Lasten, die ich bis dahin unbewußt wie Luft geatmet hatte, zu überwinden. Ich mußte mit Traurigkeit erkennen, daß die wichtigsten Beziehungen meines Lebens auf meinen inneren Ängsten beruht hatten, die als Ergebnis mein Schweigen, meine Unterwerfung und meinen Gehorsam erzeugt hatten. Doch das Ende meines inneren Schweigens und der Versuch, offen zu sein, hatten immense Konflikte in diesen Beziehungen zur Folge. Ich mußte mich schließlich mit der Tatsache abfinden, daß ich diese Beziehungen nicht einseitig verändern konnte.

Ich pflegte die Beziehungen, in denen ich mich frei fühlte, offen und ehrlich sein konnte und nicht für mein Schweigen, meine Unterwürfigkeit oder mein Entgegenkommen sondern für meinen Geist, meine Seele und meine Wahrhaftigkeit geschätzt wurde. Diese Freundschaften wurden meine Lebensquelle und machten es möglich, daß ich mir immer mehr selbst treu werden und meinen ureigenen Weg in das Leben suchen, finden und gehen konnte. Es ist auch eine große Freude und Befriedigung für mich, meine wunderbaren Kinder in ihrem Bestreben zu unterstützen, ihre eigene Stimme und ihr wahres Selbst anzuhören und ihnen zu folgen.

Ich sehe meine Verantwortung und Pflicht gegenüber dem Geschenk meines Lebens darin, daß ich es nutze um zu wachsen, zu reifen und zu lernen. Um diese Entwicklung zu gewährleisten, mußte ich Orte verlassen und mich von Beziehungen distanzieren, wo Schweigen von mir erwartet wurde. Manchmal ist diese Reise schmerzlich und einsam gewesen. Doch sie öffnete die Tür für lebensbejahende Erfahrungen, die ich noch vor wenigen Jahren niemals für möglich gehalten hätte.

Es ist mein Bedürfnis, mit Menschen zu sein, die an Zuhören interessiert sind, wo meine Stimme gehört werden kann und meine Erfahrungen helfen können. Dennoch kann mein Gefühl von Loyalität gegenüber meiner Familie mich immer noch mit Angst erfüllen und liegt manchmal mit meinem Wunsch nach Offenheit und Aufklärung im Streit. Ich leide bis heute an dem vorwurfsvollen Schweigen—das mich während jener acht Jahre in Deutschland zwischen meinen Amerikajahren lähmte—das meine Familie, vor allem meine Eltern, allem entgegenbrachten, das ich schrieb und publizieren konnte und das ich in dem Versuch unternahm, wenigstens einen kleinen Unterschied zu machen.

Die Frage, die so oft herausfordernd und vorwurfsvoll von der Elterngeneration an meine Generation gestellt wurde—Was hättest Du getan?—kann ich nur mit meinem eigenen Leben beantworten. Ich sehe mein Leben dem Dienst gewidmet, Schweigen in mir und um mich herum  zu überwinden. Daher bin ich zutiefst dankbar für diese Möglichkeit, die Mauer des Schweigens, der ich heranwachsend begegnete, zu überwinden. Es ist eine bewegende Erfahrung für mich, ein Teil von Second Generation Voices zu werden, damit meine Reise mit anderen geteilt werden kann.

© Barbara Rogers, Juli 2001

 

____________________

erwähnte Bücher

Arnim, Gabriele von. Das große Schweigen. Von der Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben.

München: Kindler Verlag, 1989

Bar-On, Dan. Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi Tätern.

Frankfurt/New York: Campus Verlag, 1993

Manchester, William. Krupp. Zwölf Generationen.

München:Kindler Verlag 1968

Sereny, Gitta. Albert Speer:Sein Ringen mit der Wahrheit.

München: Goldmann, 2001